Vordenken mit Flüssigkristallen
Daniel Vorländer erforschte „eine Merkwürdigkeit, von der man in Lehrbüchern entweder gar nicht sprach oder die man als irrig darstellte“. Doch dass die kristallinen Flüssigkeiten „eine Zukunft haben würden, hat er gewusst“. Nachzulesen ist dies in einem Nachruf auf den bedeutenden halleschen Chemiker. Der erschien 1943, zwei Jahre nach seinem Tod. Autor war der Leipziger Professor Conrad Weygand. Er bewies damit prophetische Fähigkeiten. Denn es sollte noch rund 20 Jahre dauern, bis die ersten Vorläufer dessen entwickelt wurden, was heute Millionen Menschen nicht mehr missen möchten: Flüssigkristall-Displays.
„Eine Erfindung aus Halle“, heißt es oft, wenn die Sprache darauf kommt in der Saalestadt. Stimmt nicht. Aber ohne Halles Forscher wäre es nicht dazu gekommen. „Wenn man sich anschaut, was in den letzten Jahrzehnten konzipiert und realisiert wurde, muss man sagen: Irgendwie hatte Vorländer immer seinen Anteil“, sagt Carsten Tschierske. Der Chemie-Professor ist der aktuelle Vertreter einer ganzen Reihe von renommierten Flüssigkristallforschern, die die Martin-Luther-Universität hervorgebracht hat. Sein Doktorvater Horst Zaschke ist ebenso zu nennen wie Horst Sackmann und Dietrich Demus, der wohl den Patent-Rekord an der MLU für sich beanspruchen kann. „Keine Frage, unsere Universität war lange Jahre führend auf diesem Gebiet“, sagt Patentassessorin Gisela Wissenbach. „Wir haben für viele Erfindungen Lizenzen vergeben, unter anderem nach Japan.“
Aber Vorländer? Ein Erfinder? „Wer, wenn nicht er?“, fragt Carsten Tschierske rhetorisch. Entdeckt haben die Flüssigkristalle andere. Friedrich Reinitzer und Otto Lehmann waren die Ersten, die Substanzen beschrieben, die in einem Zustand zwischen kristallinem Feststoff und Flüssigkeit vorlagen. Keine Hallenser. „Vorländer hat dann systematisch Flüssigkristalle synthetisiert. Ungefähr 2000 flüssigkristalline Verbindungen stammen von ihm – vorher gab es 20 oder 30“, berichtet Tschierske. „Die ersten Uhren-Displays wurden dann mit Substanzen produziert, die aus Vorländers Arbeit stammten. Und auch heute sind in einigen Displays Substanzen dabei, die irgendwann einmal von halleschen Forschern entwickelt wurden.“
Die Erkenntnisse über die grundlegenden Zusammenhänge zwischen der molekularen Struktur und den flüssigkristallinen Eigenschaften haben wir demnach Daniel Vorländer zu verdanken. Nur waren seine Resultate zu seiner Zeit wissenschaftliche Kuriositäten. „Keiner hat gewusst, was er damit anfangen soll. Das war Grundlagenforschung“, sagt Tschierske, selbst ein Grundlagenforscher. Auch wenn er im Rahmen seiner Doktorarbeit in den 1980er Jahren rund 20 Patente angemeldet hat.
Die Materialentwicklung für Displays finde heute in der Industrie statt. „Das sind feine Variationen, Optimierungen. Das ist nicht Aufgabe einer Universität“, meint der 59-Jährige. „Uns geht es um neue Anwendungsmöglichkeiten. Der flüssigkristalline Zustand ist ja nicht nur für Displays relevant. Optische Modulatoren oder die organische Photovoltaik sind undenkbar ohne Flüssigkristalle. Es handelt sich ohnehin um ein ganz allgemeines Organisationskonzept der Natur.“ Ein gutes Beispiel sei die DNA im Zellkern. „Die würde da gar nicht reinpassen, wenn sie sich nicht im flüssigkristallinen Zustand befände.“ Auch jede Zellmembran bestehe praktisch aus einer dünnen Schicht, die flüssigkristalline Eigenschaften hat.
Die Kombination von Ordnung und Beweglichkeit ist eben eine unabdingbare Voraussetzung für die Entstehung des Lebens. Wie sich Moleküle zu hochkomplexen flüssigkristallinen Strukturen spontan selbstorganisieren können, haben Carsten Tschierske und sein Team in internationaler Kooperation mit anderen Forschergruppen 2011 im renommierten Wissenschaftsmagazin „Science“ beschrieben. Zwei Jahre zuvor hatten sie sich an gleicher Stelle bananenförmigen Flüssigkristallen und deren überraschenden Eigenschaften gewidmet. Gedanken über mögliche Anwendungen hält Tschierske für spekulativ. „Wir betreiben Grundlagenforschung, bauen neue Moleküle, um zu sehen: Wie organisieren sie sich?“ Manche mögen das merkwürdig finden. Vielleicht kennen sie das Vorbild Vorländer nicht.