„Zusammenhalt beginnt in der Kita”

30.06.2023 von Katrin Löwe in Im Fokus, Wissenschaft
Gruppen in Kindertagesstätten sind vor allem in Städten längst nicht so vielfältig zusammengesetzt wie die Bevölkerungsstruktur im Wohnumfeld. Warum ist das so und was bedeutet das? Die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Johanna Mierendorff spricht über Ergebnisse des Forschungsprojekts „Segregation und Trägerschaft“.
Ausschnitt aus einem innerhalb des Projekts entstandenen Video
Ausschnitt aus einem innerhalb des Projekts entstandenen Video (Foto: Lena Hällmayer / Georg Krefeld)

Sie haben mit einem Team aus Halle und Hamburg die soziale und ethnische Entmischung in Kindertagesstätten untersucht, also die Frage, ob und wo Kinder aus bestimmten Bevölkerungsgruppen eher unter sich bleiben. Vorweg: Wie sähe für Sie die ideale Kita aus?
Johanna Mierendorff: Sie würde das Milieu eines Wohnquartiers abbilden, sodass Kinder aus unterschiedlichsten Lebenszusammenhängen, aus verschiedenen Kulturen, Religionen, Bildungs- und Einkommensschichten sowie unterschiedlichen Familienformen von Anfang an das gemeinsame Leben „erleben“. Wir haben aber natürlich Städte, in denen die Quartiere selbst schon sehr entmischt sind ...

Und dann? Sollte zum Beispiel die Kita in Halle-Neustadt, einem Stadtteil mit hohem Anteil von Kinderarmut und Menschen mit Migrationshintergrund, ausschließlich das Quartier Halle-Neustadt abbilden?
Das ist schwierig zu sagen. Ich glaube, wenn man die Lebenswelt der Kinder ernst nimmt, ist das nicht anders möglich. In den USA gibt es das Busing: Kinder werden von einem Quartier in das andere gebracht, um so etwas wie Diversität herzustellen. Aus der Perspektive von Kindern, die dann weitere Wege hätten, ist das sehr schwierig – auch aus der Perspektive des Lebensalltags von Eltern. Wenn man hochgradig segregierte, also entmischte Bezirke hat, ist das nicht nur eine Frage des Bildungssystems, sondern von Stadtplanung und Stadtentwicklung.

Warum ist Durchmischung aus Ihrer Sicht wichtig?
Ich würde sagen, sie ist aus pädagogischer und zivilgesellschaftlicher Sicht der bessere Weg. Frühe Auseinanderdifferenzierung, frühe Spaltung bedeutet, dass man immer wieder in der gleichen Blase bleibt. Ein weiterer Punkt: Man weiß, dass die Fördermöglichkeiten von benachteiligten Kindern geringer sind in entmischten Einrichtungen, in denen viele Kinder mit Herausforderungen welcher Art auch immer zusammenkommen. Für mich ist es auch eine Frage der Solidarität, dass in gemischten Gruppen Kinder mitgezogen werden, die beispielsweise sprachliche Schwierigkeiten haben. Sie profitieren von Gleichaltrigen, die einen anderen Stand haben.

… ohne, dass es zu Lasten der Förderung der anderen Kinder geht?
Das ist eine Frage der pädagogischen Gestaltung des Alltags. Ich glaube nicht, dass sich Kinder dort langweilen müssen, weil sie klüger sind. Auch sie profitieren auf mehreren Ebenen: durch das Kennenlernen von unterschiedlichen Kulturen, das Erlernen von Geduld im Umgang mit unterschiedlichen Menschen und unterschiedlichen Fähigkeiten, durch Solidarität. Gesellschaftlicher Zusammenhalt beginnt nicht erst in der Politik oder auf dem Arbeitsmarkt. Er beginnt in Kindertageseinrichtungen.

Sie haben in Ihrem Forschungsprojekt untersucht, welches Ausmaß die Segregation hat und welche Rolle Träger von Kindertageseinrichtungen spielen. So etwas gab es noch nicht?
In dieser Form gab es die Forschung nicht. Bisher sagen Untersuchungen vor allem, dass unterschiedliche Zusammensetzungen in Kindertagesstätten vor allem am Wahlverhalten von Eltern liegt. Wir glauben, dass das nur ein Aspekt in dem Prozess ist. Und wir haben uns die Frage gestellt, wie eine Platzvergabe mit der Trägerschaft der Kita zusammenhängt. Meine Kollegin Nina Hogrebe hat in ihrer in Münster entstandenen Habilitationsschrift festgestellt, dass Kitas in einer westdeutschen Großstadt im gleichen Quartier sehr unterschiedlich zusammengesetzt waren. Elterninitiativen und katholische Einrichtungen hatten mit Blick auf den sozialen Status und den Migrationshintergrund so gut wie keine gemischten Kindergruppen, während die Kitas der Arbeiterwohlfahrt oder städtische Einrichtungen sehr stark durchmischt waren. Wir haben nun geschaut, ob das übertragbar ist auf Gesamtdeutschland, auf Ost und West, Stadt und Land. Und wir haben herausgefunden, dass das so pauschal nicht zutrifft. Zum Beispiel lassen sich mit Ausnahme von Elterninitiativen keine Träger ausmachen, deren Kitas immer besonders viele oder wenige Kinder bestimmter Bevölkerungsgruppen aufweisen.

Das bedeutet?
Dass es bei der Frage der Segregation nicht um bestimmte Träger geht, sondern um regionale Kontexte jeweils in einer spezifischen Struktur. Was wir gesehen haben, ist, dass es Segregationsprozesse überall in städtischen Ballungsgebieten gibt, in der Kindertagesbetreuung sogar stärker als im Wohnumfeld. Dort haben wir selbst in Quartieren, wo eine Durchmischung möglich wäre, die gesamte Bandbreite erlebt: von Einrichtungen, die zu 99 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund oder Sozialleistungsbezug haben, bis zu denen, auf deren Kinder kein einziges dieser sozialen Merkmale zutrifft. Wir haben also geschaut, wie es in der Zusammenarbeit von Trägern, den Einrichtungen selbst und eine Ebene höher den Jugendämtern dazu kommt, dass solche Entmischungen entstehen.

Was haben Sie dabei herausgefunden?
Dass es kaum eine Auseinandersetzung mit dieser Problematik gibt. Der Jugendhilfeträger hat erst einmal großes Interesse daran, dass angesichts des Rechtsanspruchs auf Kindertagesbetreuung überhaupt alle Kinder einen Platz bekommen. Die Kita-Träger weisen das Problem auch von sich. Deutlich geworden ist, dass die konkrete Auswahl eines Kindes in der Regel allein den Einrichtungsleitungen obliegt, die aus ihrer einrichtungsbezogenen Perspektive schauen. Das heißt: Wenn es nicht ausschließlich nach Anmeldedatum geht, solche Kitas gibt es auch, dann wählen sie danach aus, welches Kind gerade zu ihnen passt. Dass eine Einrichtung sich keine Gedanken über soziale Ungleichheit macht, ist nicht verwunderlich. Unsere Schlussfolgerung ist: Man müsste die Aufnahme von Kindern systematisch anders organisieren.

Wäre das so ohne Weiteres möglich?
Den aktuellen gesetzlichen Rahmen bilden die schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verankerte Trägerautonomie und das Subsidaritätsprinzip, nach dem der Staat erst eingreift, wenn etwas auf der Ebene der Familien und der Einrichtungen nicht mehr geleistet werden kann. Man müsste überlegen, welchen Stellenwert dieser Rahmen noch haben soll oder wie man innerhalb von Kommunen auch ohne die Aufgabe dieser beiden Grundprinzipien die Aufnahme organisieren könnte. Schweden beispielsweise hat ein anderes Prozedere, ein Aufrückverfahren, und eine starke staatliche Qualitätssicherung, die das Problem im Blick hat.

Sie haben davon gesprochen, dass hier dagegen die Einrichtung schaut, wer „passt“. Heißt also, die Kita im bürgerlichen Milieu möchte vielleicht nicht das Kind mit Migrationshintergrund aus dem sozial schwachen Quartier.
An der Stelle muss ich erwähnen, dass unsere Methoden begrenzt waren. Wir haben nicht den Aufnahmeprozess selbst beobachtet, sondern Interviews unter anderem mit den Kita-Leitungen geführt. Dabei haben wir sehr wenige Einrichtungen erlebt, in denen das, was Sie eben sagten, so offen ausgesprochen wurde. Viele Einrichtungen sehen keine Handlungsspielräume. Sie leben in ihren Kita-Alltagen, müssen ein Konstrukt schaffen, in dem die Belastbarkeit des Teams zur Zusammensetzung der Gruppen passen muss. Damit kann man alles rechtfertigen, aber von der Hand zu weisen ist es auch nicht. Dass es bei einer Durchmischung mehr Aufwand gäbe, ist allerdings kein Argument, der Betreuungsschlüssel ist bundeslandbezogen jeweils überall gleich. Wir haben übrigens eine Kommune in Ostdeutschland erlebt, in der es diesbezüglich eine sehr gute Zusammenarbeit zwischen Trägern und Jugendamt gab und sich das Amt die Zusammensetzung der Kitagruppen genauer angesehen hat. Das ist das, was ich meinte: Wenn Ämter den Überblick behalten, sich engagieren und mit den Trägern zusammenarbeiten, ist Durchmischung möglich.

Das funktioniert auch mit Trägerautonomie?
So, wie wir es gehört haben, funktioniert es dort. Wir denken, die Vergabe müsste aus der alleinigen Verantwortung der Einrichtungen heraus. Was wir ebenfalls gesehen haben ist, dass es auch für die Kita-Leitungen ein extrem belastender Prozess ist, bei 30 Anmeldungen auf einen Platz einen auszuwählen. Das ist keine einfache Entscheidung. Ändern wird sich das vermutlich, wenn der Platzbedarf gedeckt ist. Wir haben jetzt die ersten Regionen, in denen es mehr Plätze als Kinder gibt. Dann geht der Run um Kinder los – wir nehmen allerdings an, dass auch dann Segregation zustande kommt. Das wäre wichtig zu verfolgen.

Sie haben bereits Ihre Methoden angesprochen. Wie genau haben Sie untersucht?
Quantitativ haben wir die Daten von zwei repräsentativen nationalen Bildungsstudien ausgewertet, in denen zusätzlich zu Eltern auch Kita-Leitungen und pädagogische Fachkräfte der Einrichtungen, die die Kinder der Befragten besuchen, befragt wurden. Damit konnten Stichproben von bis zu 800 Kita-Gruppen beziehungsweise Einrichtungen beleuchtet werden. Qualitativ arbeiteten wir mit anonymisierten Interviews in verschiedenen Regionen – zwei städtische in Ost und West sowie zwei ländliche in Ost und West. Insgesamt waren es mehr als 32 Interviews mit Einrichtungen, Trägern und Jugendämtern.

In einem Nachfolgeprojekt wollen Sie sich jetzt mit Kitas befassen, die als Elterninitiativen geführt werden. Die haben Sie bereits als Ausnahme dargestellt.
Sie fallen statistisch aus allem raus. Es gibt so gut wie keine gemischten Einrichtungen, egal, wo sie sind. Das wollen wir uns genauer anschauen, zumal: Wenn man sich deren Homepages oder die der Landesarbeitsgemeinschaften von Elterninitiativ-Tagesstätten anschaut, dann formulieren die etwas ganz anderes: dass sie offen und integrativ sind und Vielfalt wollen. Wir sehen das aber in den Daten nicht.

Entstanden sind in dem ersten Projekt auch zwei Videoclips, die das Thema Segregation und Ihre Forschungsergebnisse laientauglich erklären.
Das war unsere Idee im Sinne der Nachhaltigkeit: Wir wollten uns nicht nur grundlagentheoretisch mit dem Thema befassen, sondern etwas in die Praxis zurückgeben, für die Menschen auf dem Amt oder in den Kindertagesstätten selbst, die ja nicht wissenschaftlich arbeiten. Wir haben bisher schon in relativ vielen praxisnahen Konferenzen mitgewirkt, wo das Thema auf großes Interesse gestoßen ist. Ich habe die Hoffnung, dass wir durchaus eine Sensibilität schaffen und in Fragen von Bildungsgerechtigkeit etwas angeschoben wird.

Johanna Mierendorff
Johanna Mierendorff (Foto: Markus Scholz)

Prof. Dr. Johanna Mierendorff ist Professorin für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt Pädagogik der frühen Kindheit an der MLU. Ihr Projekt „Segregation und Trägerschaft. Eine quantitativ-qualitative Studie zur Untersuchung von sozialer und ethnischer Entmischung in Kitas“ hat sie über einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren gemeinsam mit Gesine Nebe sowie zwei Forschenden der HAW Hamburg, Prof. Dr. Nina Hogrebe und Stefan Schulder, durchgeführt. Gefördert wurde es vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Kontakt:

Prof. Dr. Johanna Mierendorff
Institut für Pädagogik
Tel. +49 345 55-23788
Mail johanna.mierendorff@paedagogik.uni-halle.de

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Kommentare

  • Lindemann am 22.09.2023 09:38

    Sehr lesenswert und wichtig.

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