Zwischen getrockneten Pflanzen und DNA-Barcodes
Es gibt nicht mehr viele seiner Art: PD Dr. Marcus Lehnert ist Taxonom. Das heißt, er bestimmt, beschreibt und katalogisiert Pflanzen anhand ihrer äußeren Merkmale. Experten wie er werden beispielsweise hinzugezogen, wenn es darum geht, die Biodiversität einer Region zu erfassen. Auch wenn dazu aktuell viel geforscht wird, gibt es nur wenige, die sich tatsächlich mit der klassischen Artenkunde beschäftigen. Lehnert nutzt dieses Fachwissen nicht zuletzt zur Leitung des Herbariums der Uni Halle. „Wir bekommen regelmäßig Anfragen aus aller Welt, zum Beispiel, wenn möglicherweise neue Arten gefunden wurden“, sagt der Wissenschaftler. Dann vergleichen er und sein Team die Funde mit den hiesigen Herbarbelegen. Das hallesche sei ein sehr geschichtsträchtiges Herbarium und habe auch dadurch Bedeutung, dass durch den Austausch zwischen Herbarien viele Duplikate historischer Belege vorhanden sind, die in anderen deutschen Herbarien während des zweiten Weltkriegs zerstört wurden. „Wir haben hier mehr als eine halbe Million Herbarbelege, darunter fünf bis sechs Prozent Typusbelege“, so Lehnert. Letztere sind jene Pflanzen, die zur Erstbeschreibung einer Art genutzt wurden.
Seit etwa zwei Jahren ist der 45-Jährige der Kustos des Herbariums der Universität. Er löste Prof. Dr. Uwe Braun ab, der bis 2019 die umfangreiche Pflanzen- und Pilzsammlung leitete und sich international als Experte auf dem Gebiet der Mykologie einen Namen machte. Marcus Lehnert wiederum hat es eine Pflanzengruppe persönlich besonders angetan: Farne, genauer Baumfarne. Große Blattwedel, meist mit einem Stamm, die ähnlich wie Palmen aussehen. „In die Botanik und zum Baumfarn bin ich durch Zufall gekommen“, erzählt Lehnert. Während seines Biologie-Studiums in Göttingen habe er sich ursprünglich in Biochemie spezialisieren wollen, sei davon in den praktischen Übungen jedoch enttäuscht gewesen. Die Botanik-Übungen hätten ihm viel besser gefallen. Dort bekam er schließlich das Angebot, seine Diplomarbeit zu Baumfarnen Boliviens zu schreiben und nahm an. „Ich wollte auch gerne mal in die Tropen“, begründet Lehnert seine damalige Entscheidung pragmatisch. Denn eine Reise nach Bolivien, um vor Ort Farne zu sammeln, war Teil der Arbeit.
Moderne Methoden zur Bestimmung
Die Stammeslinie der Baumfarne ist mehr als 150 Millionen Jahre alt und umfasst noch heute rund 700 Arten. Einzelne Arten sind allerdings nur schwierig zu unterscheiden. „Bevor ich angefangen habe, dachte ich, das Thema wäre schon abgegrast, weil Baumfarne so imposant sind“, sagt der Botaniker. Stattdessen stellte er fest, wie groß die Wissenslücken waren und wie sehr sich einzelne Exemplare einer Art unterscheiden können. Im Laufe der Jahre und wissenschaftlichen Stationen reiste er noch mehrfach nach Lateinamerika, aber auch in tropische Gebiete Asiens und im Pazifik. Er beschrieb Dutzende neue Baumfarn-Spezies. Im Rahmen seiner Habilitation an der Universität Bonn untersuchte er zudem, inwiefern sich Farne als sogenannte Zeigerpflanzen oder Bioindikatoren für bestimmte Ökosysteme eignen.
Doch auch der Biochemie hat Lehnert nicht gänzlich den Rücken gekehrt, modernen Methoden zur Artbestimmung gegenüber ist der Botaniker sehr aufgeschlossen. In seiner Zeit als Postdoktorand in Stuttgart und Bonn widmete er sich unter anderem dem sogenannten DNA-Barcoding. Dabei werden kurze Standard-DNA-Sequenzen einzelner Pflanzenarten katalogisiert. „So lassen sich Pflanzen auch als unvollständiges Material erkennen“, erklärt Lehnert. Man könne zum Beispiel untersuchen, ob in Tee- oder Gewürzmischungen geschützte Arten enthalten sind. Solche Datenbanken können zudem die Bestimmung und Unterscheidung einzelner Arten vereinfachen. „Man kann damit theoretisch ganze Ökosysteme abbilden“, sagt Lehnert. Zudem gibt es Arten, die nur anhand äußerlicher Merkmale kaum bestimmt werden können. Dazu zählen vor allem Moose, die sich ohne ihre Fortpflanzungsorgane, die Sporenkapseln, oft nicht zweifelsfrei unterscheiden lassen. Auch in Halle will Lehnert eine Sammlung solcher DNA-Barcodes für die hier vertretenen Pflanzenarten anlegen.
Für die lateinamerikanische Flora hat Lehnert sich über die Baumfarne hinaus zum Experten entwickelt und unterstützt beispielsweise ein Projekt von Geologen der Uni zu Ökosystemleistungen in Ecuador. Das Land hat er bereits mehrfach im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte zur Erfassung der Biodiversität besucht. Was ihn an Pflanzen und der Taxonomie so fasziniert? „Der große Vorteil an Pflanzen ist, dass sie nicht weglaufen“, sagt Lehnert. Einmal gesammelt, ließen sie sich zudem weiter untersuchen. Auch ihre Regenerationsfähigkeit beeindruckt ihn. „In vielen Fällen reicht ein Steckling, um eine neue Pflanze wachsen zu lassen.“
Umzug und Modernisierung
Die nächste große Aufgabe des Kustos ist es, den Umzug des Herbariums zu organisieren. Im kommenden Jahr soll es so weit sein. Lehnert will mit dem Umzug auch die Ordnung des Herbariums modernisieren. „Bisher bekommt jede Pflanzenfamilie eine fortlaufende Nummer“, sagt er. Das führe jedoch dazu, dass neu beschriebene Familien einfach ans Ende der Liste gesetzt werden müssen, anstatt bei nahe verwandten Gruppen eingeordnet zu werden. Die Taxonomie ist jedoch keinesfalls statisch, neben neu beschriebenen Pflanzenfamilien werden andere aufgelöst, weil durch neue Erkenntnisse eine Verwandtschaft widerlegt wird. „Das neue System richtet sich schlicht nach den Großgruppen, wie Moose und Gefäßpflanzen“, erklärt Lehnert. Darunter werde alphabetisch geordnet, sodass sich neue Arten und Gruppen flexibel einordnen und wiederfinden lassen. Das sei der weltweite Standard und mache es auch für Gastwissenschaftler einfacher.
Das neue Gebäude, das sich ebenfalls auf dem Gelände des botanischen Gartens befindet, bietet außerdem mehr Platz als das jetzige. „Wir können alles etwas mehr auseinanderdrapieren“, so Lehnert. Aktuell seien alle Schränke voll. Doch es wird immer neuer Platz gebraucht, da regelmäßig neue Pflanzen in Halle ankommen. Denn auch heute reicht es nicht, ein Foto von einer neuen Art zu machen. Sie wird weiterhin gepresst und als Typusbeleg aufbewahrt, fast wie vor 300 Jahren, als Herbarien in Mode kamen. Auch in 100 Jahren sollen Forschende noch auf den ersten Beleg einer Pflanzenart zugreifen können.