Disputation in Wittenberg: Bedeutet Künstliche Intelligenz das Ende der Universität?
Windig und wolkenverhangen war es, als der Akademische Senat am Reformationstag in seinen historischen Talaren das Wittenberger Rathaus verließ. Angeführt von Rektorin Prof. Dr. Claudia Becker und Wittenbergs Oberbürgermeister Torsten Zugehör zog der Senat vom Marktplatz durch die Collegienstraße zur Stiftung Leucorea. Dort fand zum 29. Mal die traditionelle Disputation der Universität statt.
Das diesjährige Thema der von Prof. Dr. Winfried Kluth moderierten Disputation – Künstliche Intelligenz – wurde bereits in der musikalischen Eröffnung durch Mitglieder des Akademischen Orchesters aufgegriffen. Sie spielten eine Fuge von Bach, gefolgt von einer Fuge, die von der KI namens „MuseNet“ komponiert wurde. Die Bemerkung von Orchesterleiter Daniel Spogis, dass die KI Schwierigkeiten mit dieser komplexen Form der Musik habe und sie am Ende übermäßig in die Länge ziehe, sorgte für Heiterkeit im Saal. Rektorin Claudia Becker wies in ihrer Begrüßung darauf hin, dass es problematisch sei, wenn es in der Debatte um KI oft nur darum gehe, dass diese vieles vereinfache. KI könne uns zum Beispiel nicht abnehmen, für unsere Werte einzustehen. Dem schloss sich Oberbürgermeister Torsten Zugehör an: „KI ist nicht die Abkürzung für ‘Ich habe Kinderstube‘“. Der Leucorea-Vorsitzende Prof. Dr. Jörg Dierken trug Auszüge aus einem von ChatGPT verfassten Grußwort vor und stellte unter anderem fest, dass ChatGPT Ironie und Augenzwinkern vermissen lasse.
Diesjähriger Thesengeber für die Disputation war Prof. Dr. Steffen Augsberg von der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er stellte in Abwandlung eines Liedtitels der amerikanischen Rockband R.E.M fest: „KI is the End of the University as We know it and I Feel Fine.“ KI sei keine Intelligenz im menschlichen Sinne, sondern bilde ihre Aussagen auf Basis von Wahrscheinlichkeiten. Dies führe dazu, dass KI eher Vorhandenes reproduziere statt Wissen zu generieren. Und: Sie stelle der Hochschule mehr Aufgaben als die Überprüfung, ob mit ihrer Hilfe betrogen werde. Prof. Dr. Haifa Kathrin Al-Ali, Professorin für Translationale Onkologie an der MLU und Direktorin des Krukenberg-Krebszentrums, stellte heraus, dass der Einsatz von KI in der Krebsmedizin schon seit vielen Jahren Realität sei, die eine individualisierte Medizin ermögliche. Gleichzeitig könne KI aber niemals den emphatischen Umgang mit Krebspatienten ersetzen. Einen Einblick in die Funktionsweise von KI lieferte Prof. Dr. Tim Landgraf, Professor für Kollektive und Künstliche Intelligenz an der Freien Universität Berlin. In seiner Arbeitsgruppe wird KI anhand des Sozialverhaltens von Bienen und Fischen entwickelt. Prof. Dr. Pablo Pirnay-Dummer, Prorektor für Studium und Lehre an der MLU, stellte fest, dass in der Gesellschaft ein Verständnis davon fehle, was KI sei und wie sie funktioniere - davon hänge aber wesentlich ab, wie gut sich KI in die Hochschule integrieren ließe. Pirnay-Dummer veranschaulichte das mit einem Beispiel aus seinem eigenen Forschungsgebiet, in dem eine KI programmiert wurde, um die Qualität von Schulaufsätzen zu bewerten.
Auch Augsburg stellte abschließend fest, dass die Gesellschaft den Umgang mit KI lernen müsse. Dies müsse auch Studierenden als Methodenkompetenz vermittelt werden. KI werde viele Aufgaben überflüssig machen. Sie führt aber, folgt man seinen Argumenten, auch zu neuen Kompetenzen. Augsbergs letzte These endete bereits mit der Überzeugung, dass KI nicht das Ende der Universität bedeute, sondern für einen neuen Anfang stehe.