Ein neuer Blick auf die Reformation - Internationaler Kongress in Wittenberg
Ist das der wissenschaftliche Höhepunkt im Jubiläumsjahr?
Ernst-Joachim Waschke: Für unsere Universität und den Universitätsbund ist dieser internationale und interdisziplinäre Kongress fraglos der wissenschaftliche Höhepunkt im Reformationsjahr. Wir erwarten 160 Teilnehmer, darunter die führenden Wissenschaftler ihres Fachs. Gemeinsam werden wir uns mit den Wirkungen der Reformation beschäftigen, die bis in die Gegenwart reichen. Die Wirkungen der Reformation gehen übrigens nicht allein auf Luther zurück, deshalb sind im Kongress-Logo neben Luther auch die Reformatoren Johannes Calvin und Ulrich Zwingli zu sehen. Uns interessieren vielmehr die verschiedenen Ausprägungen der Reformationen. Inhaltlich gibt es zwischen den beiden Tagungen natürlich eine Verbindung: Der Internationale Kongress für Lutherforschung beschäftigt sich mit Luther sowie theologischen und kirchengeschichtlichen Fragen des 16. Jahrhunderts. Wir setzen uns anschließend mit der Prägekraft der Reformation auf Alltag und Kultur sowohl im Reformationsjahrhundert als auch in den darauf folgenden Jahrhunderten auseinander.
Die Kongressteilnehmer diskutieren auch über das Für und Wider des Konzepts „Kulturelle Wirkungen der Reformation“. Ist die Wissenschaft sich nicht darüber einig, dass die Reformation kulturelle Auswirkungen hatte?
Natürlich gibt es auch in diesem Punkt Anlass zur Diskussion. Heute kann man fast jeden Begriff nehmen und behaupten, dass er sich irgendwie auf Luther zurückführen ließe. Nehmen Sie den Individualismus, den die einen auf die europäische Aufklärung des 18. Jahrhunderts und andere auf das 19. Jahrhundert und Sigmund Freud zurückführen. Wieder andere argumentieren, dass diese Idee bereits bei Luther auftaucht, und zwar in Bezug auf die biblische Lektüre: Jeder soll selbst Gottes Wort lesen und sich damit in eigener Verantwortung auseinandersetzen. Ein weiteres Beispiel: Es gibt auch die Thesen, dass der Protestantismus eine der Wurzeln des Kapitalismus sei oder dass wir der Reformation das deutsche Schulwesen verdanken. Es gilt, alle solche Thesen kritisch zu überprüfen.
Welche Fragen beschäftigen die Reformationsforscher denn aktuell?
Für mich persönlich ist das Spannendste nach wie vor Luthers Übersetzung der Bibel, aus der sich noch immer viele Fragen ergeben. Luthers Einstellung zu unterschiedlichen Personengruppen seiner Zeit ist ebenso ein Thema, insbesondere zu den Juden. Aktuell wird in der Wissenschaft zum Beispiel darüber gestritten, inwiefern man zwischen dem jungen, gemäßigten Luther und dem Luther der Spätzeit unterscheiden kann, der darauf bedacht war, seine Lehrautorität zu erhalten und sein eigenes Werk zu fördern und zu stilisieren. Seine Judenschriften sind bis zum 19. Jahrhundert kaum wieder abgedruckt worden – erst mehr als 300 Jahre nach seinem Tod wurden sie zuerst von nationalistisch eingestellten Deutschen und schließlich von den Nationalsozialisten wiederentdeckt und instrumentalisiert. Wenn etwas derart vergessen und nie thematisiert wird, kann es später viel Unheil anrichten.
Wo sehen Sie hier die Aufgabe der Wissenschaft?
Unsere Aufgabe als Wissenschaftler ist es, zu reflektieren und sachlich über Luther zu diskutieren. Bislang ist die Wissenschaft im Jubiläumsjahr wenig sichtbar gewesen. Wir sehen, wie Luther heute gefeiert wird, obwohl sich Historiker immer wieder – schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts und spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg – sehr kritisch mit ihm auseinandergesetzt haben. Der Gedächtniskult um Luther begann schon zu seinen Lebzeiten, seitdem hat sich seine öffentliche Wahrnehmung immer wieder verändert. So wurde er zum Beispiel in der DDR anfangs eher kritisch dargestellt – als Fürstenknecht. Und in den 1980ern wurde er dann als der große Mann der deutschen Sprache gefeiert. Die Wissenschaft sollte mit solchen Versuchen, sich Luther einzuverleiben, kritisch umgehen und außerdem geht es immer wieder darum, den Fokus nicht allein auf Luther zu legen. Immer aktuell bleibt deshalb in der Lutherforschung auch die Frage, ob die Reformation ein überraschendes und singuläres Ereignis war oder ob sie sich strukturell aus den Konstellationen der spätmittelalterlichen Gesellschaft sozusagen automatisch ergab.
Wie nähern sich die Teilnehmer dem Thema des Kongresses?
Die unterschiedlichen Perspektiven werden an drei Vormittagen durch je zwei Hauptvorträge eingeleitet. Nachmittags werden in 13 Sektionen mit kürzeren Vorträgen bestimmte Aspekte der kulturellen Wirkung vorgestellt und diskutiert. Geleitet werden diese Sektionen je von einem renommierten externen Wissenschaftler und einem Forscher aus den drei Universitäten des mitteldeutschen Universitätsbunds. Auch die Promovierenden des Graduiertenkollegs „Kulturelle Wirkungen der Reformation“, das vom Land Sachsen-Anhalt gefördert wird und an der Stiftung Leucorea angesiedelt ist, werden sich in den verschiedenen Sektionen einbringen.
Zu welchen Fragestellungen arbeiten die Sektionen?
Die Sektionen sind sehr vielfältig aufgestellt. Die Sektion zu Reformation und Reformatoren in der Popularkultur ist zum Beispiel aus einem Workshop zu Luther im Film entstanden. Luther spielt heute in der Popkultur eine erstaunliche Rolle. Es gibt ihn in Filmen und Comics. In Wittenberg wird sogar ein Luther-Pop-Oratorium aufgeführt. Wo gibt es da noch eine Verbindung zu Luther beziehungsweise was geht in diesen Darstellungen auf Luther zurück? All das muss auch wissenschaftlich reflektiert werden. Die einzige Sektion, die ein wenig aus dem Rahmen fällt, ist die zum Ernestinischen Wittenberg. Sie befasst sich fast ausschließlich mit dem 16. Jahrhundert und wird auf der Tagung die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Das Ernestinische Wittenberg. Universität und Stadt (1486–1547)“ präsentieren.
Wie werden die Ergebnisse der Diskussion nach dem Kongress für die Wissenschaft aufbereitet?
Ich gehe davon aus, dass wir die Hauptvorträge und die Arbeit aus den Sektionen in drei Bänden veröffentlichen werden. Diese Publikationen werden auch in 100 Jahren noch die Frage beantworten: Wie wurde 2017 die Reformation und ihre Wirkungen im Rahmen der universitären Wissenschaft gesehen? Wir hoffen, einen neuen, wissenschaftlich differenzierten Blick auf die Reformation und vor allem ihre Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte zu bekommen.
Was erhoffen Sie sich noch von dem Kongress?
Ich erhoffe mir besonders viel von der Abschlussveranstaltung. Moderiert von der Theologin und Kirchenhistorikerin Irene Dingel, wollen wir dort alle Ergebnisse aus einer zusammenfassenden, interdisziplinären Perspektive diskutieren. Meine Hoffnung ist aber auch, dass der Kongress dazu beiträgt, die Stiftung Leucorea zu einer Plattform der reformationsgeschichtlichen Forschung im weitesten Sinn auszubauen. Keine Universität ist allein in der Lage, die Reformationsforschung abzudecken. Eine solche Plattform ließe sich aber, gemeinsam mit dem Universitätsbund Halle-Jena-Leipzig, an der Leucorea aufbauen.
Kongress: Kostenfreie Teilnahme für Studierende und Konzert
Studierende, die ihre Immatrikulationsbescheinigung vorlegen, können den Kongress kostenlos besuchen. Doktoranden zahlen eine ermäßigte Kongressgebühr. Alle Interessierten werden um eine verbindliche Anmeldung über die Website des Kongresses bis zum 20. Juli 2017 gebeten. Auch der Besuch einzelner Tage ist möglich und kann direkt vor Ort gebucht werden.
Das Akademische Orchester der Universität Halle wird im Rahmen des Kongresses am 9. August um 20.30 Uhr in der Wittenberger Schlosskirche musikalische Zeugnisse der Reformation erklingen lassen. Karten sind für 10 Euro, ermäßigt 5 Euro, an der Abendkasse, für Kongressteilnehmer im Zuge der Anmeldung und ab 7. August auch im Kongressbüro in der Stiftung Leucorea, Collegienstraße 62, erhältlich.
Luthers Leucorea: Forschung in Wittenberg
Zwei durch das Land geförderte Forschungsprojekte an der Leucorea, Stiftung an der Universität Halle, widmen sich der Geschichte und Wirkung der Reformation. Über die Forschergruppe „Das ernestinische Wittenberg: Universität und Stadt (1486 – 1547)“ und das Graduiertenkolleg „Kulturelle Wirkungen der Reformation“, das unter Leitung der Reformationsgeschichtlichen Sozietät der Universität Halle in Kooperation mit der Leucorea eingerichtet worden ist, berichtet das Onlinemagazin.
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