Gründer mit Tram-Schein

05.04.2022 von Matthias Münch in Wissenschaft, Wissenstransfer
Für die Untersuchung der Arbeitsbelastung hallescher Straßenbahnfahrer hat Dr. Florian Schweden selbst eine Ausbildung zum Tramführer gemacht. Heute bietet der ehemalige MLU-Psychologe seine Expertise in einem Start-up an, das mit der Uni weiterhin eng verbunden ist.
Mit der Straßenbahn fing alles an: Firmengründer Florian Schweden (rechts) und Vincent Mustapha bei der Halleschen Verkehrs-AG. Schweden hat damals sogar selbst einen Straßenbahn-Führerschein gemacht.
Mit der Straßenbahn fing alles an: Firmengründer Florian Schweden (rechts) und Vincent Mustapha bei der Halleschen Verkehrs-AG. Schweden hat damals sogar selbst einen Straßenbahn-Führerschein gemacht. (Foto: Maike Glöckner)

Man kennt die Geschichten von Journalisten, die für ihre Story kurzzeitig in ein anderes Leben geschlüpft sind. Ihr Argument: Man kann nur authentisch über das berichten, was man selbst erlebt hat. Ähnliche Motive hatte Dr. Florian Schweden, als er vor einigen Jahren – gemeinsam mit seiner damaligen Kollegin Dr. Therese Kästner von der Abteilung Arbeits-, Organisations- und Sozialpsychologie der MLU – den Bürostuhl gegen den Fahrersitz einer Straßenbahn getauscht hat. „Im Projekt Strab auf Trab haben wir die psychische Belastung der halleschen Tramfahrer untersucht“, erzählt Schweden. „Für uns begann das Vorhaben ziemlich ungewöhnlich – mit einer Führerschein-Ausbildung bei der Halleschen Verkehrs-AG.“ Mehrere Monate lang wurden Kästner und Schweden als Zusatzfahrer im anspruchsvollen Streckennetz eingesetzt.

Für die Hallesche Verkehrs-AG (HAVAG) gab es zwei Gründe, sich an die Arbeitspsychologen der MLU zu wenden: Zum einen ist es für Arbeitgeber in Deutschland seit 2013 vorgeschrieben, die Gefährdung durch psychische Belastungen am Arbeitsplatz zu ermitteln. Zum anderen, so Schweden, gab es ein intrinsisches Interesse des Unternehmens: Der Krankenstand unter den Fahrerinnen und Fahrern war vergleichsweise hoch. Die Forschenden wiederum sahen in dem Projekt die Möglichkeit, die Wissenschaft zu bereichern – zu Belastungen bei Straßenbahnfahrern gab es bis dato kaum Daten. Um zu sehen, welche Probleme bei den täglichen Schichten auftreten, haben die Arbeitspsychologen sie auch bei Diensten begleitet. Pausen, Störungen, Kommunikation mit der Einsatzleitung – all das wurde exakt dokumentiert.

Die meisten Unternehmen, sagt Schweden, kommen ihrer gesetzlichen Pflicht dadurch nach, dass sie Fragebögen an ihre Angestellten verteilen. Wie subjektiv die Bewertungen sind, erklärt er an einem Beispiel: „Wenn Sie einen alten Hasen fragen, wie sehr er unter der Lautstärke in der Bahn leidet, wird er vielleicht gar nicht wissen, was Sie von ihm wollen – während ein Neuling sich über lautes Rumpeln, schrille Klingeln oder quietschende Räder beschwert.“ Medizinische Daten zeigen jedoch, dass Gesundheitsgefahren durch Lärm meist unabhängig vom persönlichen Empfinden sind. Ähnlich subjektiv ist die Einschätzung des eigenen Gestaltungsspielraums. „Manche nehmen einen deutlich größeren Spielraum wahr als andere, obwohl der durch die strikten Zeitvorgaben objektiv stark beschränkt ist.“ Erkenntnisse wie diese flossen damals in die Promotionsarbeiten der beiden Wissenschaftler und bis heute auch in weitere Studien ein. 2017 wurde „Strab auf Trab“ mit dem Transferpreis der MLU und der Stadt Halle ausgezeichnet.

Inzwischen hat sich Florian Schweden mit seiner Expertise selbstständig gemacht. Ein Jahr nach seiner Dissertation gründete er gemeinsam mit Dr. Vincent Mustapha und mit Unterstützung des Transfer- und Gründerservice der MLU das Institut für Arbeitsgestaltung und Organisationsentwicklung INAGO. „Damals haben wir uns noch ein Büro geteilt und oft über die gängigen Ansätze der Unternehmensberatung diskutiert, die stark auf das Verhalten der Angestellten ausgerichtet sind und die Arbeitsbedingungen zu wenig berücksichtigen“, erzählt er. „Wir haben dann beschlossen, es mit einem Start-up besser zu machen.“ Mit Prof. Dr. Renate Rau, die die Abteilung Arbeits-, Organisations- und Sozialpsychologie leitet, entwickelten beide das TAGMA-Verfahren, mit dem INAGO laut Schweden heute ein Alleinstellungsmerkmal in der Unternehmensberatung besitzt. „TAGMA steht für Verfahren zur Tätigkeitsanalyse und -gestaltung bei mentalen Arbeitsanforderungen. Das Modell präzisiert den Ansatz, den wir bereits bei der HAVAG gewählt haben – wir gleichen unsere Beobachtungen mit DIN-Normen, gesetzlichen Vorschriften und wissenschaftlich evaluierten Mindeststandards ab. Daraus können wir spezifische und branchenunabhängige Gestaltungsempfehlungen ableiten.“

Namhafte Unternehmen der Möbelindustrie, der Energieversorgung, der Logistik sowie kommunale Einrichtungen nutzen bereits den Service von INAGO. Zu den wichtigsten Maßnahmen dort zählt der Abbau von Leistungs- und Zeitdruck – beispielsweise durch die Einrichtung fester Erreichbarkeitsfenster, innerhalb derer Probleme besprochen und Fragen geklärt werden, während die Angestellten in den übrigen Zeiten ungestört arbeiten können.

Seinen Hauptsitz hat das Start-up inzwischen nach Hamburg verlegt, um von der höheren Unternehmensdichte der Hansestadt zu profitieren. Das Büro in Halle firmiert als Filiale. Mit der Universität ist das Unternehmen weiterhin eng verbunden: Co-Geschäftsführer Vincent Mustapha hat eine halbe Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter der MLU, Professorin Renate Rau ist wissenschaftliche Beirätin im Unternehmen. Die drei Honorarkräfte, die INAGO beschäftigt, sind ebenfalls an der MLU angestellt, bei Bedarf werden weitere Partner hinzugezogen. „Wir haben der halleschen Uni viel zu verdanken, deshalb wollen wir auch etwas zurückgeben“, sagt Florian Schweden. „Wir bieten Studierenden beispielsweise an, arbeitspsychologische Praktika bei uns zu absolvieren.“ Die Berührung mit Themen aus dem Arbeitsalltag, mit Sorgen und Ängsten, aber auch Erfolgen sei eine wichtige Lebenserfahrung für junge Menschen.

Das Ursprungsprojekt von INAGO hatte unterdessen ganz praktische Konsequenzen für die Straßenbahnfahrerinnen und -fahrer. Noch im Laufe der Forschung wurden abwechslungsreichere Mischarbeiten sowie Sonderdienstpläne mit reduzierter Stundenzahl oder ausgewählten Schichttagen angeboten. Aufenthaltsräume wurden saniert und Getränkeautomaten aufgestellt, die Fahrkabinen mit neuen Sitzen und Armauflagen für eine leichtere Bedienung ausgestattet, Ernährungsberatungen und Sportkurse angeboten. „Wir haben mit unserem Projekt das unternehmensweite Gesundheitsmanagement im Fahrdienst intensiviert“, sagt Florian Schweden. „Im Anschluss an das Projekt war die Mitarbeiterzufriedenheit gestiegen und die Zahl der Krankheitstage sank.“ Mit der Halleschen Verkehrs AG arbeitet INAGO noch heute zusammen.

Dr. Florian Schweden
INAGO
E-Mail: info@in-ago.de

Dr. Vincent Mustapha
Institut für Psychologie
Tel.: +49 345 55-24343
E-Mail: vincent.mustapha@psych.uni-halle.de

Schlagwörter

Psychologie

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Kommentare

  • Sabine Henze am 05.04.2022 14:50

    Das ist ein mehr als gut gelungenes Beispiel, wie wissenschaftliche Arbeiten und Erkenntnisse, direkt (ungekürzt, unverstellt) an den Menschen kommen. Nicht immer wirkt Wissenschaft unmittelbar auf Organisation und die damit verbundenen Prozesse. Ich wünsche dem jungen Unternehmen weiterhin ein gutes Gefühl für die Situationen im Arbeitsleben und die Anwendbarkeit ihrer Expertise im Sinne des "gesunden Arbeitsplatzes"! Sabine Henze

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