„Kinderleicht sprechen“ – Ein Erfolgsprojekt zwischen Uni und Praxis

19.09.2024 von Katrin Löwe in Wissenschaft, Wissenstransfer
Wie sieht eine feinfühlige Kommunikation zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern in der Kita aus? Wie kann die Sprachentwicklung unterstützt werden? Darum geht es seit 2010 im Kooperationsprojekt „Kinderleicht sprechen“ von MLU-Sprechwissenschaftlerin Dr. Stephanie Kurtenbach und Franziska Kreutzer vom Eigenbetrieb Kindertagesstätten der Stadt Halle. 2024 haben beide für ihr Engagement den Transferpreis von MLU und Stadt erhalten – im Interview erklären sie ihr Erfolgskonzept.
Stephanie Kurtenbach (links) und Franziska Kreutzer leiten das Projekt.
Stephanie Kurtenbach (links) und Franziska Kreutzer leiten das Projekt. (Foto: Philipp Liebing)

Sie gehen jetzt schon auf das 15. Jahr Ihrer Kooperation zu. Ist Ihnen der Start noch präsent – und wie hat er ausgesehen?
Franziska Kreutzer: Ja, der war ganz besonders. Normalerweise haben wir in der Praxis die Anfragen aus der Wissenschaft, in unserem Fall war es umgedreht. Damals wurden in Sachsen-Anhalt alle Vierjährigen auf ihren Sprachstand überprüft. Wir hatten Fragen zu dem Test namens „Delfin 4“, der für diese Überprüfung genutzt wurde. Erzieherinnen und Erzieher haben uns zum Beispiel berichtet, dass sie bei vielen Kindern einen Unterstützungsbedarf sehen, die Kinder den Delfin-4-Test aber bestehen. Außerdem wollten wir wissen: Wie fördert man die Sprachentwicklung der Kinder wirklich effektiv?

Stephanie Kurtenbach: Ich habe auch einen enormen Zugewinn für unsere Studierenden gesehen, die am Projekt beteiligt werden und so am Ende des Masterstudiums einen starken Praxisbezug erhalten. Und wir haben schnell gemerkt, wie wertvoll so eine kontinuierliche Kooperation für die Forschung ist. Heute besteht das Projekt aus vier Säulen: einer jährlichen Weiterbildung für pädagogische Fachkräfte und Studierende, der Begleitforschung, der Erstellung von Begleitmaterialien und der Wissenschaftskommunikation.

Worum konkret ging es inhaltlich?
Kurtenbach: Am Anfang ging es ganz allgemein um Sprachförderung in der Kita im Alter von null bis sechs Jahren. Wie können pädagogische Fachkräfte die Kinder bestmöglich begleiten? Welche Sprachförderstrategien gibt es? Welche sprachlichen Meilensteine durchleben die Kinder in dieser Altersgruppe?

Kreutzer: Danach haben wir inhaltlich immer wieder Themen aufgegriffen, die in der Praxis relevant waren und wo es Unterstützungsbedarf gab.

Zum Beispiel?
Kurtenbach: Zum Beispiel, wie man ganz kleine Kinder in den ersten kommunikativen Strukturen unterstützen kann. Dazu gehören Blickkontakt, gemeinsame Aufmerksamkeit, der Einsatz von Gesten, wie das Zeigen auf etwas. Weil immer häufiger mehrsprachig aufwachsende Kinder betreut werden, war auch „quersprachig – mehrsprachig“ ein großes Thema für uns. Quersprachig bedeutet dabei, dass die Kinder quer durch alle Sprachen kommunizieren, die sie beherrschen. Das fördert Sprachkompetenz. Fachkräfte sollten also tatsächlich nicht einfach sagen „sprich Deutsch!“ – auch wenn das Ziel ist, dass die Kinder sich auch gut auf Deutsch verständigen können.

Kreutzer: Nach Corona haben wir im Eigenbetrieb zudem eine Digitalisierungskampagne gestartet. Das klingt immer, als wäre es nicht wirklich förderlich für die Kommunikation. Wir wollten uns aber anschauen, ob man mit Tablets und Vorlese-Apps nicht doch etwas erreichen kann.

Und? Kann man?
Kreutzer: Wenn es ungesteuert passiert: nein. Es geht darum, dass die Kommunikation am Tablet nicht nur von technischen Details handeln darf – also davon, wo auf dem Display man drücken muss. Wir haben mit den Fachkräften erarbeitet, wie man sich dessen bewusst wird und die Kommunikation auf die Inhalte lenkt. Dazu gehören auch Momente, in denen ich das Tablet weg lege und praktisch agiere. Ein Beispiel: Wenn in der App der Löwe brüllt, teste ich mit den Kindern, wie man brüllen kann.

Außerdem: Gerade für Kinder, die wenig sprechen oder sich sonst wenige Bücher anschauen, ist es oft ein riesiger Motivationsfaktor, das am Tablet zu tun. Viele Vorlese-Apps oder Bilderbuch-Services sind noch dazu mehrsprachig. Ich habe also die Möglichkeit, mehrsprachig aufwachsenden Kindern etwas in „ihrer“ Sprache vorzuspielen, zurück auf Deutsch zu switchen und ins Gespräch zu kommen.

Kurtenbach: Zu diesem Thema ist übrigens ein wirklich schöner Beobachtungsbogen zur Erzählfähigkeit von Kindern entstanden.

Wozu dienen Beobachtungsbögen?
Kurtenbach: Wir wollen Erzieherinnen und Erziehern eine Hilfestellung dazu geben, sehr fokussiert die Sprache und kommunikative Fähigkeiten der Kinder zu beobachten, zu protokollieren und auf dieser Basis eigene Ideen abzuleiten. Bisher haben wir drei Bögen entwickelt: Es gibt einen für frühe kommunikative Fähigkeiten mit einem sehr umfangreichen Begleitheft, so dass nicht nur diejenigen ihn nutzen können, die am Projekt teilnehmen. Dann gibt es jeweils einen für Mehrsprachigkeit und für die Erzählfähigkeit. Alle Dokumente stehen öffentlich auf unserer Website.

Das Kita-Personal hat die Fähigkeiten von Kindern aber sicher auch vor dem Projekt schon registriert. In welcher Form?
Kreutzer: Natürlich ist Beobachtung und Dokumentation in der Kita ein großes Thema – aber unter anderen Aspekten. Da geht es zum Beispiel um die Entwicklung des Kindes ganz allgemein. Wir haben gemerkt, dass es eigentlich keine Bögen gibt, die über eine Einteilung zum Sprachförderbedarf - Ja oder Nein – hinaus ganz konkrete Handlungsideen enthalten.

Bedeuten die Bögen nicht auch nochmal ein Stück mehr Bürokratie in einem ohnehin stressigen Job?
Kurtenbach: Darüber machen wir uns natürlich viele Gedanken. Deshalb haben wir schon die Weiterbildungen über jeweils sechs Monate gezogen, so dass zwischen Schulungen und Praxistagen ausreichend Zeit ist. Es geht auch nicht darum, dass alle Kinder in einer Gruppe beobachtet werden: Die Tandems – also jeweils Studierende und Fachkraft – suchen sich ein Kind aus und probieren den Bogen ein-, zweimal aus.

Kreutzer: Verwenden werden die Erzieherinnen und Erzieher ihn später, wenn sie bei einem Kind ein komisches Bauchgefühl oder Fragen zu seiner Sprachentwicklung haben.

Nun haben Sie schon Tandems, Schulungen und Praxistage genannt. Wie ist die Weiterbildung strukturiert?
Kurtenbach: Am Anfang gab es zunächst einen Schulungstag. Das heißt, wir und die Studierenden haben die Pädagoginnen und Pädagogen geschult und sind dann in die Kitas gegangen, um zu sehen, wie sie das Erlernte umsetzen.

Kreutzer: Wir hatten aber Zweifel daran, ob das nachhaltig ist. Außerdem haben wir gemerkt, dass das Vertrauensverhältnis fehlt, um problematische Situationen in der Kommunikation mit den Kindern anzusprechen. Wir mussten das Projekt komplett anders umsetzen – das haben wir auch getan. Zum einen haben wir die Studierenden aus ihrer „Expertenrolle“ genommen und Tandems aus jeweils einer Studentin und einer Fachkraft gebildet, die gemeinsam lernen und in der Praxis die Aufgaben ausprobieren. Es gibt abwechselnd insgesamt vier Schulungs- und drei Praxistage. Um ihr Verhalten zu reflektieren, filmen sich die Tandems selbst inzwischen sehr intensiv. Das alles ist es, was den Erfolg ausmacht. Was ich auch wahrnehme: Wir schaffen es, in der Praxis die Angst vor der Wissenschaft abzubauen. Unsere Pädagoginnen und Pädagogen werden wirklich wertgeschätzt als Menschen, die eine absolute Expertise für ihren Bereich haben.

Wie hat die Arbeit während der Corona-Pandemie funktioniert?
Kurtenbach: Wir konnten nicht in die Kitas, wollten das Projekt aber nicht stoppen. Also haben wir uns gemeinsam mit den Studierenden die bis dahin entstandenen Videosequenzen – etwa 600 – angeschaut und analysiert und noch einmal die Literatur durchforstet, jeweils mit Blick auf Verhaltensweisen, die Kommunikation mit Kindern fördern.

Sie hatten vorhin schon einmal die Begleitforschung angesprochen. Wie umfangreich ist sie?
Kurtenbach: Bislang sind vier Bachelor- und 13 Masterarbeiten aus dem Projekt entstanden, deren Ergebnisse zusammengefasst auch auf unserer Website stehen. Dazu kommen weitere Publikationen oder Vorträge wie auf der Jahrestagung der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte.

Nach so vielen Jahren: Wie kann es weitergehen?
Kurtenbach: Der nächste Durchgang startet im Oktober – und wir haben uns erneut für das Thema „quersprachig - mehrsprachig“ entschieden, weil es für alle gerade ein sehr gutes und wichtiges Thema ist.

Kreutzer: Es gibt so viele Themen rund um die Sprachförderung, ich denke, wir werden immer eines finden. Und bisher haben wir in jedem Jahr mehr Bewerber aus den Kitas als Studierende. Ein Ziel ist auch, unsere Inhalte stärker zu digitalisieren und Online-Weiterbildungen daraus zu machen, die man einem größeren Kreis zur Verfügung stellen kann.

Der Transferpreis

Der von der Universität Halle gemeinsam mit der Stadt Halle und der Stadtwerke Halle GmbH verliehene Transferpreis würdigt herausragende anwendungsbezogene Abschlussarbeiten und Dissertationen sowie erfolgreiche Kooperationsvorhaben zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie außerakademischen Partnern. Ausgezeichnet werden herausragende wissenschaftliche Vorhaben, die gesellschaftlich oder wirtschaftlich relevante Fragestellungen bearbeiten. Der erste gemeinsame Transferpreis von Universität und Stadt wurde vor zehn Jahren verliehen. 2024 ging der mit 1.000 Euro dotierte Preis in der Kategorie „Erfolgreiche regionale Transferkooperation“, gestiftet von der Stadt Halle, an das Projekt „Kinderleicht sprechen“.

Das Video zur Preisverleihung:

 

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Sprechwissenschaft

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