Leben auf der Urzeit-Insel
Es ist die Geschichte eines Saurier-Jungtiers, das mit seiner Herde vor 154 Millionen Jahren durch das heutige Norddeutschland streift. Mitteleuropa ist zu dieser späten Jura-Zeit eine subtropische Insellandschaft, in der männliche Meereskrokodile um die Gunst der Weibchen kämpfen, mausähnliche Säugetiere Libellen jagen, Zwergkoniferen, Tang und Meeresalgen als Nahrungsquelle für Pflanzenfresser dienen. Hier beginnt die Geschichte des Jungtiers, dessen Herde sich erst vor einem Raubsaurier in Sicherheit bringt, um wenig später in einem anderen Drama zu landen: Während eines Gewitters löscht ein Blitzschlag fast die gesamte Herde aus – nur das Kleine überlebt. Und muss sich nun auf der Suche nach Artgenossen allein durchschlagen, unter Begleitung von Flugsauriern, aber auch auf der Flucht vor einem weiteren Raubsaurier.
„Europasaurus – Urzeitinseln voller Leben“ lautet der Titel des ungewöhnlichen Buches, das Ende 2020 im Münchner Pfeil-Verlag erschienen ist. In Form einer Graphic Novel, also einer Art Comic, haben der MLU-Wissenschaftler Dr. Oliver Wings, der Paläokünstler Joschua Knüppe aus Ibbenbüren (Nordrhein-Westfalen) und der Hannoveraner Mediendesigner Henning Ahlers auf 184 Seiten die Ergebnisse vieler Jahre Forschung aufbereitet. Konkret geht es vor allem um die Arbeit im Kalksteinbruch Langenberg bei Goslar (Niedersachsen). Dort hat bereits 1998 eine Sensation ihren Anfang genommen: der Fund der ersten Knochen des Europasaurus holgeri durch einen Hobby-Paläontologen. Der Saurier gehört zu den langhalsigen Sauropoden, den größten Landtieren aller Zeiten, deren Vertreter auf eine Körperhöhe von bis zu mehr als 13 Metern kamen und bis zu 70 Tonnen wogen. Europasaurus dagegen wurde als wissenschaftliche Kuriosität bekannt, als Wissenschaftler aus Bonn, Lissabon und Münchehagen (Niedersachsen) ihn 2006 im Fachmagazin „Nature“ erstmals benannten und beschrieben: Anders als zunächst angenommen hatte man keine Jungtier-Fossilien gefunden. Der Saurier wurde auch ausgewachsen nur maximal drei Meter hoch und bis zu einer Tonne schwer. Sein Zwergenwuchs war vermutlich eine Folge des begrenzten Nahrungsangebots auf den Inseln, sagt Wings.
Langjährige Erfahrungen
Der Paläontologe ist seit 2017 an der MLU tätig. Er leitet als Kustos die zum Zentralmagazin Naturwissenschaftlicher Sammlungen gehörenden geowissenschaftlichen Sammlungen sowie die Geiseltalsammlung, in der 50.000 Fossilien aus den ehemaligen Braunkohle-Tagebauen südwestlich von Halle einen Blick in das Ökosystem vor etwa 45 Millionen Jahren bieten. Dinosaurier, die Wings bereits seit seiner Promotion an der Universität Bonn erforscht, waren da schon über 20 Millionen Jahre ausgestorben. Angefangen hat der Forscher aber nicht mit fossilen Knochen, sondern mit Steinen, die die Riesen der Urzeit im Magen hatten und deren Funktion noch nicht ganz geklärt ist. Seitdem haben ihn die Dinos nicht mehr losgelassen. Bis heute hat er auf sechs Kontinenten gegraben, von Grönland über Südafrika bis nach China. In den Wüstengebieten des nordwestchinesischen Xinjiang hat Wings zum Beispiel neben Massenansammlungen von Schildkröten auch Dinosaurier gefunden. „Das war das erste Projekt, in dem ich mich auch direkt mit der Anatomie der Dinosaurierknochen befasst habe“, sagt der 48-Jährige. Unter anderem hat er dort mit chinesischen Forschern Fossilien eines bis dato unbekannten Giganten entdeckt: Xinjiangtitan, ein 35 Meter langes und 40 Tonnen schweres Tier, das zu den größten Dinosauriern weltweit zählt.
Seit rund zehn Jahren befasst sich Wings nun zudem intensiv mit den Urzeittieren aus dem niedersächsischen Kalksteinbruch. „Es gibt wenige Dinosaurierarten, die der Forschung heute so gut und so vollständig bekannt sind wie der Europasaurus“, sagt er. Insgesamt konnten im Steinbruch 21 Individuen ganz unterschiedlicher Altersstufen gefunden werden – die Uni Bonn beschrieb das Areal einmal als „Jurassic-Harz“, vom dem Steven Spielberg geträumt hätte. Von den mehr als 3000 geborgenen Knochen von Europasaurus sind bisher gut 1.300 präpariert worden.
Noch, sagt der hallesche Wissenschaftler, bieten die mehr als 20 Jahre alten Funde viel Raum für weitere Forschung. Allerdings: Sie stammen abbaubedingt aus Schutthalden. Regelmäßig wird in dem aktiven Kalksteinbruch auf etwa 30 Metern Breite drei Meter tief gesprengt. Aus jeweils etwa 5.000 Tonnen Gestein mit einer Blockgröße von maximal zwei Metern Durchmesser wurden die Fossilien geborgen – für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler war das so etwas wie ein riesiges 3D-Puzzle. „Wir wollten nun wissen, wie die Knochen im Zusammenhang im Gestein liegen“, berichtet Wings. Ab 2011 hat er sich deshalb selbst am Langenberg auf die Spuren von Europasaurus und dessen damaliger Umwelt begeben, zunächst fünf Jahre lang in einem von der VolkswagenStiftung mit mehr als 600.000 Euro finanzierten Projekt.
In luftiger Höhe
Die Bedingungen vor Ort haben es Wings´ Team allerdings nicht leicht gemacht. „Ich habe schon auf aller Welt gegraben, so schwierig wie in Langenberg war es nie“, sagt er. Ein Grund: Die Gesteinsschichten aus ehemaligem Kalkschlamm und Resten von Meerestieren aus der späten Jura-Zeit liegen nicht mehr horizontal, sondern wurden bei der Entstehung des Harz-Gebirges hochgeschoben, fast senkrecht. Mit Hämmern und Spitzhacken arbeitete das Team deshalb auch in 16 bis 17 Metern Höhe vom Personenkorb eines Krans aus. Insgesamt wurden 600 Tonnen Gestein bewegt, mehr als fünf Tonnen durch Siebe gewaschen. Zunächst mit mäßigem Erfolg – Krokodilzähne wurden entdeckt, Schildkrötenpanzer, aber kein Europasaurus. „Das war ein Rückschlag.“
2014 folgte aber eine echte Erfolgsmeldung – wenn auch anders als erhofft: der Nachweis der ersten Säugetiere aus der Jura-Zeit in Deutschland. Den Auftakt bildete Teutonodon langenbergensis, ein mausähnliches Exemplar aus der Gruppe der Multituberculata, die vor etwa 34 Millionen Jahren ausgestorben ist. Ein nur zwei Millimeter großer Zahn wurde während der Präparation eines anderen Fundes – eines Krokodilwirbels – gefunden und reichte aus, um die neue Art zu bestimmen. Bis heute sind Zähne von vier weiteren Säugetiergruppendazugekommen. Wie ungewöhnlich diese Funde sind, erklärt Wings: „Ein Großteil von Süddeutschland ist bedeckt von Schichten aus der Jura-Zeit“, sagt er. Seit etwa 200 Jahren werden diese erforscht, bis auf wenige von anderen Inseln angeschwemmte terrestrische Organismen seien aber stets nur Meerestiere gefunden worden. „Langenberg ist die beste Fundstelle in ganz Mitteleuropa für neue Säugetiergattungen aus dieser Zeit“, sagt Wings. Mittlerweile seien bis auf Schnabeltiere alle Gruppen von Säugetieren nachgewiesen worden, die es im späten Jura weltweit gab.
Als neue Gattung wurde auch das kleine landlebende Krokodil Knoetschkesuchus langenbergensis identifiziert, benannt nach dem Koordinator der Geländearbeiten Nils Knötschke vom Freilichtmuseum Dinosaurierpark Münchehagen, der auch an Wings´ Projekt beteiligt war. Von dem Tier wurden zwei Teilskelette, mehrere Knochen und viele Zähne gefunden. In die wissenschaftliche Aufarbeitung der Funde sind mehrere Partner involviert. Während Dinosaurier-Fossilien – auch von Europasaurus tauchten schließlich noch einige neue auf – im Münchehagener Museum präpariert werden, untersucht die Universität Bonn Mikrofossilien. Mit Hilfe von Mikro-Computertomographie können dort zum Beispiel Zähne rekonstruiert und dreidimensional dargestellt werden.
Ihre Ergebnisse haben die Forschenden nicht nur in wissenschaftlichen Journalen veröffentlicht. Den Gedanken, die Lebenswelt des Europasaurus mithilfe der eigenen Forschung und den Erkenntnissen aus früheren Projekten auch für die breite Öffentlichkeit lebendig werden zu lassen, hatte Oliver Wings immer im Hinterkopf. Viele Paläontologie-Professuren seien in der Vergangenheit gestrichen worden, auch weil sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht um Kommunikation gekümmert haben, sagt er. Weil sie nicht erklärt haben, welche Bedeutung ihr Fach hat. Dabei hat die Paläontologie eigentlich einen großen Vorteil: „Das Interesse ist da, über Dinosaurier kommt man immer ran“, so Wings.
Populärwissenschaftliche Bücher gebe es einige, sagt der Paläontologe, der selbst auch Autor eines 2005 erschienenen Kinder-Brockhaus-Buchs über Dinosaurier ist. Nun sollte es eine innovativere Form der Wissenschaftskommunikation sein. Gemeinsam mit Joschua Knüppe entstand die Idee der Graphic Novel, einer umfangreichen, forschungsbasierten Story im Comicformat. „Ich hatte erst Bedenken wegen des Arbeitsaufwandes für den Illustrator“, sagt Wings. Knüppe sei aber begeistert gewesen. Der 28-Jährige hat Kunst studiert und sich mit der detailgetreuen, faktenbasierten Darstellung von Dinosauriern einen Namen in der Wissenschaft gemacht. In den vergangenen Jahren hat er für mehrere Forschende und Museen gearbeitet, auch Funde vom Langenberg bereits visualisiert. „Das Basiswissen hatte ich schon“, sagt er – seit seinem dritten Lebensjahr zeichne er Dinosaurier. Für das Buch hat er sich zudem sämtliche Publikationen zu den Funden vom Langenberg angesehen. Eine Herausforderung, so Knüppe, sei das Narrative gewesen. Für das Storytelling, Verständlichkeit und Emotion war vor allem Henning Ahlers zuständig, der viel im Bereich Animationsfilm-Design gearbeitet hat und in diesem Projekt auch auf zeichnerische Details achtete. „Es ist wichtig, dass Joschua Knüppe Paläokünstler ist und kein Illustrator aus der Werbung oder dem redaktionellen Bereich. Also jemand, für den der wissenschaftliche Bereich kein notwendiges Übel ist“, sagt Ahlers. Knüppe ergänzt: „Es ist eben nicht beliebig, wie man Muskeln setzt und Proportionen verteilt.“
Drei Jahre Arbeit
Alle Zeichnungen und Informationen – neben der Bildgeschichte gibt es einen 38-seitigen Informationsteil, der allgemeinverständlich die Arbeit mit den Fossilien beschreibt – wurden von internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern überprüft. Dass die Herde von Langenberg damals tatsächlich, wie im Buch erzählt, bei einem Naturereignis wie einem Blitzschlag ums Leben gekommen ist, ist eine durchaus wahrscheinliche Variante. „Es muss ein plötzliches Ereignis gewesen sein, das alle erwischt hat, vom Baby bis zum acht Meter langen ausgewachsenen Tier“, sagt Wings. Bei einer Vergiftung hätten sich beispielsweise die weniger empfindlichen adulten Tiere noch ein Stück fortbewegt, wären nicht Millionen Jahre später am gleichen Ort gefunden worden.
Insgesamt stecken drei Jahre Arbeit in dem Buch. „Bei mir sind elf Kilo Papier zusammengekommen“, sagt Knüppe, der auf bis zu 70 Zentimeter breiten Bögen gezeichnet hat. Finanziert wurde die Produktion mit zusätzlichen Mitteln der VolkswagenStiftung. Im Februar 2021 wurde zudem auf YouTube ein erster Film mit animierten Zeichnungen aus der Graphic Novel veröffentlicht, drei weitere Folgen sind geplant. Die Forschung auf dem Langenberg ist für Oliver Wings damit aber nicht beendet. Er hat die Hoffnung nicht aufgegeben, auf ein komplettes Europasaurus-Skelett zu stoßen. „Spannender wäre aber fast, noch etwas anderes zu finden“, sagt er. Einen Stegosaurier etwa, der bisher nur mit einem einzigen Zahn nachgewiesen ist. Die Tiere haben dort offenbar gelebt – warum aber sind keine weiteren Knochen von ihnen aufgetaucht? „Das ist eine Frage, die mich umtreibt und auf die ich noch eine Antwort finden möchte.“
Dr. Oliver Wings
Zentralmagazin Naturwissenschaftlicher Sammlungen
Tel. +49 345 55-26073
E-Mail: oliver.wings@zns.uni-halle.de