Neues Zentrum gegründet: Wie lässt sich der soziale Wandel in Sachsen-Anhalt gestalten?

16.01.2018 von Tom Leonhardt in Wissenschaft, Wissenstransfer
Wie lässt sich das Leben im Alter künftig besser einrichten? Wie verändert sich die Arbeitswelt? Wie lässt sich der soziale Zusammenhalt in Stadt und Land stärken? Die Fragen, mit denen sich das Kompetenzzentrum Soziale Innovation – Sachsen-Anhalt befasst, sind von hoher gesellschaftlicher Relevanz. Im November 2017 ist das Zentrum als eine Denkfabrik unter Federführung des halleschen Zentrums für Sozialforschung (ZSH) offiziell gestartet. Im Interview berichten Prof. Dr. Everhard Holtmann vom ZSH und Prof. Dr. Ralf Wehrspohn vom Fraunhofer-Institut für Mikrostruktur von Werkstoffen und Systemen IMWS über die mit Gründung der Einrichtung einhergehenden Anstöße und Erwartungen.
Gunnar Berg, Vizepräsident der Leopoldina, Everhard Holtmann, Leiter des Zentrums für Sozialforschung Halle, Petra Grimm-Benne, Ministerin für Arbeit, Soziales und Integration Sachsen-Anhalt, Sozialforscher Ralf Kopp und Prof. Dr. Josef Hochgerner, Gründer des Zentrums für Soziale Innovation Österreich (v.l.n.r.) bei der Eröffnung des Kompetenzzentrums Soziale Innovation Sachsen-Anhalt.
Gunnar Berg, Vizepräsident der Leopoldina, Everhard Holtmann, Leiter des Zentrums für Sozialforschung Halle, Petra Grimm-Benne, Ministerin für Arbeit, Soziales und Integration Sachsen-Anhalt, Sozialforscher Ralf Kopp und Prof. Dr. Josef Hochgerner, Gründer des Zentrums für Soziale Innovation Österreich (v.l.n.r.) bei der Eröffnung des Kompetenzzentrums Soziale Innovation Sachsen-Anhalt. (Foto: Jessica Witt)

campus halensis: Vor wenigen Monaten fand der offizielle Startschuss für das Zentrum statt. Die Vorarbeiten dafür laufen bereits seit einem Jahr. Was ist bis heute passiert?
Everhard Holtmann: Wir haben mit unseren Partnerinstitutionen erste Inhalte für unsere vier Schwerpunkte - Arbeit, Pflege und Gesundheit, Alter und sozialer Zusammenhalt - entwickelt. In diesen Feldern wollen wir das im Land bereits vorhandene Wissen, welches soziale Innovation freisetzt oder sich dafür nutzen lässt, systematisch aufbereiten und bündeln. Wir sind dabei, einen Wissensspeicher zu erstellen, in den Zug um Zug einschlägige Projekte mit kurzen „Steckbriefen“ Einzug finden sollen.

Was ist die Grundüberlegung des Zentrums?
Ralf Wehrspohn: Wir sind nicht zufällig als Verbund von Technik- und Sozialwissenschaften gestartet. Unsere Arbeitshypothese ist, dass jede soziale Innovation eine technische Innovation hinterlegt hat. Trotzdem sind die beiden Innovationsstränge noch nicht immer gut miteinander verknüpft. Das wollen wir ändern.

Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?
Holtmann: Das Kompetenzzentrum ist nicht zuletzt ein methodisches Denkwerk. Bisher ist das Verständnis von sozialen Innovationen nicht hinreichend aufgearbeitet. Im Rahmen des Zentrums wollen wir Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler anregen, soziale Innovationen in den verschiedenen Themenfeldern systematisch aufzuarbeiten und anhand von Fallstudien zu analysieren.

Everhard Holtmann leitet das Zentrum für Sozialforschung Halle und auch das Kompetenzzentrum für Soziale Innovation Sachsen-Anhalt
Everhard Holtmann leitet das Zentrum für Sozialforschung Halle und auch das Kompetenzzentrum für Soziale Innovation Sachsen-Anhalt (Foto: privat)

Können Sie konkrete Beispiele für soziale Innovationen nennen?
Wehrspohn: Ein Beispiel, das die Kollegen am Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF in Magdeburg bearbeiten, ist die Telemedizin im ländlichen Raum. In der Altmark gibt es die Idee, einen Teil der kardiologischen Facharztausbildung in die Fläche zu geben und so neue Formen der digitalisierten Patientenbetreuung sicherzustellen. Aktuell arbeiten die Kollegen daran, die technische Machbarkeit zu erproben.

Holtmann: Das ist eine hochkomplexe Herausforderung, die sehr spannend ist! Telemedizin würde den ländlichen Raumen stärken, wenn die Menschen aus Osterburg zum Beispiel nicht erst nach Magdeburg zum Kardiologen fahren müssen.

Die Telemedizin ist in Teilen aber keine neue Entwicklung. Kommt das Zentrum hier zu spät?
Wehrspohn: Analysieren lässt sich nur etwas, was schon da ist. Dass es die Telemedizin bereits gibt, ist die Grundlage, um Daten zu gewinnen und die Entwicklung analysieren zu können. Daraus lassen sich Vorschläge entwickeln, wie es in Zukunft besser weitergehen kann. Verglichen mit anderen Bundesländern leistet Sachsen-Anhalt hier Pionierarbeit.

Haben Sie auch ein Beispiel für eine soziale Innovation im Raum Halle?
Wehrspohn: In Halle haben wir uns mehr auf Innovationen im urbanen Raum konzentriert – da ist zum Beispiel das Projekt Zukunftsstadt Halle-Neustadt. Eine Frage ist hier etwa, wie Genossenschaften dafür sorgen könnten, dass Personen in ihrem Quartier mit ihrer Rente alt werden können, ohne auf staatliche Zuschüsse angewiesen zu sein. Wenn ich eine Großraumwohnsiedlung als „economy of scale“ begreife, kann ich exklusive Verträge mit Pflegediensten schließen und so die Kosten für alle Bewohner senken. Damit sichere ich den Menschen in ihrem Quartier eine gewisse Unabhängigkeit und kann die Generationen durchmischen.

Holtmann: Was auch in der Obhut des halleschen Fraunhofer-Instituts liegt, ist das Themenfeld social entrepreneurship, also soziales Unternehmertum. Da werden künftig gemeinnützige Initiativen gebündelt und im Lande bekannt gemacht.

Ralf Wehrspohnt leitet das Fraunhofer IMWS und ist gemeinsamer Professor an der Uni Halle.
Ralf Wehrspohnt leitet das Fraunhofer IMWS und ist gemeinsamer Professor an der Uni Halle. (Foto: Fraunhofer/Jürgen Lösel)

Was verbirgt sich dahinter?
Wehrspohn: Beim sozialen Unternehmertum geht es weniger darum, eine Strategie wie in einem klassischen Unternehmen vorzugeben und ein Produkt zu entwickeln, das für alle passt. Vielmehr ist es mein Job als Unternehmer, Steine aus dem Weg zu räumen. Nehmen Sie als Beispiel die Telemedizin. Hier müssen Sie alle Akteure einbeziehen und die Bevölkerung mitnehmen, wenn der Einsatz gelingen soll. Das erfordert ein großes Umdenken – auch bei der Politik, die wohl mehr Verantwortung auf lokale Akteure übertragen muss.

Holtmann: Dazu gehören klassischer Weise auch Genossenschaften, die sich teilweise sehr stark in ihren Quartieren engagieren. Einzelne Genossenschaften machen Räume oder ganze Wohnungen frei, um Begegnungsstätten zu schaffen. Dort sind dann Freiwillige aktiv und offerieren verschiedene Angebote – nicht nur für die Mitglieder der Genossenschaft, sondern für das ganze Viertel. Bei den Juristen an der Universität erforscht Prof. Dr. Winfried Kluth seit Langem, wie genossenschaftliche Organisationen dabei helfen können, Lücken in der Infrastrukturversorgung zu kompensieren – speziell im ländlichen Raum.

Wie geht es jetzt mit dem Zentrum weiter?
Wehrspohn: Unser Anspruch ist es, die bestehenden Initiativen in Sachsen-Anhalt weiter zu unterstützen. Dazu gehört, diese sichtbar zu machen und auch untereinander zu vernetzen. Dafür wollen wir auch Kommunikationstools entwickeln und zur Verfügung stellen. Im Bereich des sozialen Unternehmertums gilt es, eine Anlaufstelle zu etablieren, um die Aus- und Weiterbildung von Unternehmern konzeptionell zu gestalten. Dafür gehen wir natürlich auf die bereits etablierten Akteure in diesem Bereich zu.

Holtmann: Der Großteil unserer Arbeit ist methodisch und strukturbildend. Wir werden aber auch mehrere Pilotprojekte auf den Weg zu bringen, die ganz konkret auf soziale Innovationen abzielen. Pro Initiative stehen dafür bis zu 200.000 Euro zur Verfügung. Das könnten zum Beispiel virtuelle „Avatare“, also persönliche Begleiter mit künstlicher Intelligenz sein, die bei der Berufswahl helfen, oder neue Möglichkeiten in der Telemedizin flankieren. Außerdem werden wir Themenwochen zu unseren verschiedenen Tätigkeitsbereichen organisieren und so auch in der Öffentlichkeit präsent sein.

Website des Kompetenzzentrums Soziale Innovation Sachsen-Anhalt: https://soziale-innovation.sachsen-anhalt.de

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