Sprache: „Nur dabei sein bedeutet noch keine Teilhabe“
Treten die Sprachprobleme bei bestimmten Kindern häufiger auf?
Sallat: Es gibt ganz unterschiedliche Ursachen: Es gibt bestimmte Gruppen, von denen man annimmt, dass sie besonders gefährdet sind – wenn sie zum Beispiel aus sozial schwachen Regionen stammen. Das kann man aber nicht direkt zuordnen. Wenn etwa die Eltern selbst wenig lesen, sind ihre Kinder häufig nicht so gut auf die Bedeutung von Sprache und Schrift geprägt. Das kann genauso auf wohlhabende Familien zutreffen. Hinzu kommen Kinder mit Hörproblemen, mehrsprachigen Hintergründen – und letztlich auch genetisch bedingten Sprachstörungen. Außerdem gibt es pro Jahrgang etwa fünf bis sieben Prozent der Kinder, die eine Sprachstörung aufweisen, ohne dass wir die Gründe dafür kennen.
Das Problem ist also gar nicht so selten?
Genau. Mit unserer Veröffentlichung wollen wir auch ein Bewusstsein dafür schaffen. Pädagogische Fachkräfte und die Träger der Einrichtungen müssen im Fokus haben, dass die Kinder keine absoluten Ausnahmen sind und dass es für sie einen Mehrbedarf in der Betreuung gibt. Im vorschulischen Bereich haben wir noch keinen so starken Zwang von Lehrplänen. Hier gibt es daher noch mehr Freiraum bei der Gestaltung.
Worin liegt die Schwierigkeit für die Kinder?
In der Schule müssen Kinder einen neuen Code lernen – die Schriftsprache. Bisher ist ihnen nur die Lautsprache bekannt. Nun müssen plötzlich die Wörter in Laute und die Laute wiederum in Grapheme, also die Buchstaben, übersetzt werden. In der Schule wird außerdem eine ganz andere Art der Sprache verwendet, die Bildungssprache. Mit dieser wird argumentiert, diskutiert und erörtert. Sie unterscheidet sich damit sehr deutlich von der Umgangssprache, die wir im Alltag verwenden. Kinder müssen lernen, mit Sprache immer komplexere Sachverhalte auszudrücken. Gleichzeitig hat jedes Unterrichtsfach sein eigenes Vokabular. Allein im Fach Mathematik lernen Grundschüler 500 neue Begriffe! Wenn Kinder bereits zuvor Sprachprobleme oder geringe sprachliche Fähigkeiten haben, werden diese in der Schule fortgesetzt und verstärkt. Die großen nationalen und internationalen Bildungsvergleichsstudien der letzten Jahre haben noch einmal deutlich aufgezeigt, dass Kinder mit geringen sprachlichen Fähigkeiten zum Schuleintritt geringere Bildungsabschlüsse erreichen.
Haben Kindertagesstätten diesen Themenbereich erkannt?
Ein ganz klares Ja. Sprachliche Bildung ist in den Bildungsplänen für die Kitas ein wichtiger Bestandteil. Dementsprechend machen die Fachkräfte Angebote zur sprachlichen Bildung und Förderung wie gemeinsames Bücheransehen und Besprechen, das gemeinsame Liedersingen oder etwa Reimspiele. Auch soll die Sprachförderung in den Alltag integriert werden. Auch beim Schuhe anziehen oder beim gemeinsamen Essen und Aufräumen kann man Sprache fördern. Zudem gibt es Themen, die immer wiederkehren: Im Frühjahr spricht man beispielsweise über die aufblühende Natur und so weiter. Diese Wiederholung hilft vielen Kindern, einen umfangreichen Wortschatz aufzubauen. Kitas und Schulen versuchen, den Kindern ein reichhaltiges Sprachangebot zu offerieren. Konkret heißt das: viel Sprache, eine hohe Qualität und Abwechslungsreichtum.
Reicht das?
Mit sprachlicher Bildung oder allgemeinen Angeboten zur Sprachförderung erreichen wir nicht alle Kinder. Kinder mit Sprachentwicklungsproblemen – und dies sind die oben erwähnten fünf bis sieben Prozent der Kinder – profitieren von diesen Angeboten häufig nicht, weil die mangelnde Anregung nicht ihr Problem ist, sondern eine gestörte Sprachverarbeitung vorliegt. Hier braucht es dann spezifische Methoden, die individuell auf jedes Kind abgestimmt sind und demzufolge die interdisziplinäre Zusammenarbeit der pädagogischen Fachkräfte mit Sprachpädagogen und Sprachheiltherapeuten und eventuell auch mit Kinderärzten. Jeder Beteiligte muss immer reflektieren, wo das eigene Wissen aufhört und ab welchem Punkt man sich Hilfe holen sollte.
Bereits heute gibt es doch viele Angebote zur Sprachtherapie …
Es reicht aber nicht, wenn das Kind am Nachmittag in die Sprachtherapie geht. Sprachstörungen wirken sich auf das Verstehen jeglicher Situationen aus. Überall steckt Sprache drin. Ein einfaches Beispiel: Wenn wir an eine Ampel kommen, dann sprechen wir innerlich „Oh es ist rot, ich muss warten, sonst werde ich überfahren“ und so weiter. Genauso steckt Sprache in allen Spiel- und Lernsituationen und Kinder mit geringen sprachlichen Fähigkeiten haben daher Probleme, alles zu verstehen und genauso gut wie die anderen zu lernen. Das ist die Gefahr der Inklusion: Wir denken zu oft, wenn alle zusammen sind, dann haben alle die gleichen Chancen. Aber nur dabei zu sein bedeutet noch keine Teilhabe. Man muss bei jedem Thema und in jeder Situation darüber nachdenken, wie viel Sprache beinhaltet ist und ob es komplexe Wörter oder Sätze gibt, die den Kindern Schwierigkeiten bereiten können. Das Personal muss sich daher in allen Situationen der Schwierigkeiten der Kinder bewusst sein, sonst schalten diese ab.
Wer ist dafür verantwortlich?
Die Verantwortung kann nicht nur bei einer Person liegen. Sprache ist sehr wichtig, aber sie ist nicht der einzige Bereich. Das lässt sich nur realisieren, wenn man sich als interdisziplinäres Team versteht und so arbeitet. Früher hat man sich darauf verlassen, dass es für Kinder mit Problemen besondere Sprachheilkindergärten gibt. Diese gibt es aber nicht mehr, teils ist das auch gar nicht mehr gewünscht. Daher müssen die Einrichtungen und Träger dafür sorgen, dass Sprachheilpädagogen oder Sprachtherapeuten zum Team gehören oder über Kooperationen sicherstellen, dass die entsprechende Expertise schnell und dauerhaft hinzugezogen werden kann. Die Hamburger Elbkindergärten haben zum Beispiel Spezialisten hierfür angestellt, die mit den Kindern und den Erziehern arbeiten und in Hildesheim gibt es für den Landkreis ein intensives Beratungssystem für die Kitas über eine Kooperation des Landkreises mit der Universität, dem Frühförderbereich sowie dem medizinisch-therapeutischen Bereich.
Was ist das Ziel dieser Maßnahmen?
Im Mittelpunkt sollte immer das Kind mit seinen individuellen Bedürfnissen stehen. Es geht also um ganz verschiedene Kompetenzen, die da sein müssen: Dazu gehören die Begleitung und Förderung der Sprachentwicklung, aber auch Beobachtungs- und Diagnostikkompetenzen. Gleichzeitig müssen die pädagogischen Fachkräfte ihr Handeln und die Situationen im Alltag in Bezug auf die darin enthaltene Sprache reflektieren. Als Einrichtung sollte man auch wissen, wer die Kooperationspartner im Umfeld sind. Unsere Publikation richtet sich an pädagogische Fachkräfte, Sprachtherapeuten, Heilpädagogen und auch Kinderärzte. Wir geben einen Überblick über die verschiedenen Handlungsfelder und zeigen anhand von Checklisten, was in den jeweiligen Bereichen möglich ist und wie sie miteinander vernetzt werden können. Im Idealfall ist es so, dass alle gemeinsam arbeiten und sich gemeinsam zum Wohle des Kindes Netzwerke ausbilden.
Angaben zur Publikation:
Stephan Sallat, Christiane Hofbauer & Robert Jurleta: Inklusion an den Schnittstellen von sprachlicher Bildung, Sprachförderung und Sprachtherapie. München 2017, 68 S., ISBN: 978-3-86379-244-2