Wie gelingt der Strukturwandel?
Auch wenn Prognosen immer mit einer großen Portion Unsicherheit versehen sind, in einer Sache ist sich der hallesche Humangeograph Prof. Dr. Jonathan Everts sicher: Der Ausstieg aus der Kohleförderung und der Verzicht auf fossile Rohstoffe als Energiequelle werden die Welt verändern. „Wenn die grundlegende Ressource, über die wir unsere Energie beziehen, ersetzt wird, revolutioniert das die komplette Gesellschaft“, sagt er. Das zeige ein Blick in die Geschichte, etwa auf den Übergang von Holz zu Kohle als Energieträger. Mit einem Mal waren Strom und Wärme nicht nur für einzelne Personengruppen verfügbar, sondern zum Beispiel für weite Teile einer Stadt. Nebenbei hat die Kohleförderung auch eine Reihe von Entwicklungen und Erfindungen hervorgebracht, ohne die die Welt von heute nicht denkbar wäre: „Die Dampfmaschine wurde entwickelt, um das Wasser aus den Kohlebergwerken nach oben zu befördern“, sagt Everts. Eine Erfindung, die – dank der Kohle – den Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert einläutete.
Ähnliche Umbrüche könnten uns auch heute bevorstehen, meint der Forscher, der das Institut in seiner Gründungsphase gemeinsam mit der Ethnologin Prof. Dr. Asta Vonderau und dem Wirtschaftsjuristen Jun.-Prof. Dr. Azar Aliyev leitet. Neben der MLU selbst unterstützt der Förderverein Pro Halle diese Phase mit zusätzlichen Mitteln. Die Idee für das Institut kommt nicht von ungefähr: Die sogenannte Kohlekommission, ein beratendes Gremium der Bundesregierung zur Ausgestaltung des Kohleausstiegs, hatte in ihrem Abschlussbericht 2019 empfohlen, die MLU mit einem solchen Institut auszustatten. Und auch die Zielvereinbarung zwischen der Universität und dem Land Sachsen-Anhalt 2020-2024 sieht die Institutsgründung vor. Die Einrichtung soll den Strukturwandel in der Region wissenschaftlich begleiten und auch Vorschläge für die weitere Ausgestaltung liefern.
Das Kohle-Aus ist noch aus einem weiteren Grund etwas Besonderes: „Erstmals ist es eine bewusste Entscheidung, dass unsere Gesellschaft auf einen Energieträger verzichtet“, sagt Everts. Dahinter steht das Ziel der sogenannten Dekarbonisierung. Gemeint ist damit, dass langfristig nicht mehr Kohlenstoffdioxid freigesetzt werden soll als durch verschiedene Maßnahmen wieder gebunden werden kann. Dabei gehe es nicht nur um die Förderung fossiler Brennstoffe, sondern zum Beispiel auch um die nachhaltige Einsparung von Kohlenstoffdioxid, etwa bei der Produktion von Baustoffen wie Zement. Dieser Prozess betrifft perspektivisch die ganze Bevölkerung, unabhängig von Wohnort oder Beruf, ist sich Everts sicher. Ein Beispiel: Eine mögliche Alternative zu Zement könnte ausgerechnet Holz sein. Seit einigen Jahren wird in speziellen Werken daran gearbeitet, neue „Hightech-Hölzer“ zu produzieren, die für den Hausbau eingesetzt werden können und die Zement in puncto Beständigkeit und Sicherheit in nichts nachstehen. Fällt Zement als Baustoff perspektivisch weg, müssen ganze Industriezweige sowie Arbeitnehmerinnen und -nehmer umdenken. Oder auch Menschen, die ein Haus bauen wollen.
Der Spürhundeffekt
Blaupausen, wie sich der Strukturwandel für einzelne Regionen oder gar Nationen bestmöglich gestalten lässt, gibt es keine. Bisher habe sich die Forschung zum Strukturwandel häufig auf bestimmte statistische Kenngrößen fokussiert, etwa die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen oder der Abwanderung aus strukturschwachen Gebieten, so Everts. „Zum Wandel als solchen gibt es bisher aber noch nicht viel Forschung“, sagt er und beschreibt damit auch gleichzeitig das Desiderat, mit dem sich das neue Institut befassen möchte: Ziel ist es, aus dem Alltag der Menschen vor Ort heraus zu verstehen, wie der Wandel abläuft, wie er funktioniert und wo es Probleme gibt.
„Wir müssen den Wandel mit und nah an den Menschen sowie deren Lebenswirklichkeiten gestalten“, bekräftigt Ethnologin Asta Vonderau. Die Wissenschaft nehme in diesem Prozess eine noch ungewohnte Rolle ein: Sie sei keine externe Beobachterin, die fertige Patentrezepte präsentiert. Vielmehr sollten sich Forscherinnen und Forscher als gleichberechtigte Akteure verstehen, die mit Politik und Bevölkerung gemeinsam den Wandel gestalten. „Es reicht nicht wissenschaftlich gestützte Modelle zu entwickeln und sie zu implementieren. Wir brauchen eine kontinuierliche Forschung, die vor Komplexitäten, Problematisierungen, unbequemen Erkenntnissen nicht scheut, multiple Fragestellungen und Akteure adressiert und den Schwierigkeiten dieser Transformationen Anerkennung und Rechnung trägt“, so Vonderau weiter.
In dieser Konstellation sieht Everts eine einmalige Chance und Herausforderung: „Beim Wandel können uns viele Überraschungen begegnen, es wird viel Unerwartetes kommen.“ Aufgabe des Instituts sei es, Innovationen aufzufinden und sichtbar zu machen. „Wir wollen diese Potenziale heben, nicht abwürgen.“ Er spricht deshalb auch von einem „Spürhundeffekt des Instituts“.
Dafür sei es nötig, speziell die Teile der Bevölkerung zu erreichen, die akut vom Strukturwandel betroffen sind und für deren Leben Universität und Forschung bislang keine große Rolle gespielt haben. „Wir wollen es schaffen, dass diese Pioniere des Strukturwandels sagen: Die Wissenschaft ist ein Teil von uns, sie nimmt uns mit unseren Problemen ernst und mit ihr können wir gemeinsam Lösungen erarbeiten.“ Dazu gehört zum Beispiel auch die Frage, wie Bergbaufolgelandschaften langfristig nachgenutzt werden können. Immerhin handele es sich hier um ein Kulturerbe. Dafür sei viel Arbeit nötig, die nicht in die typischen Förderzeiten von wenigen Jahren passe. Everts spricht von Jahrzehnten.
Vorbild Sachsen-Anhalt?
Noch finden keine konkreten Forschungsprojekte an dem Institut statt. „Wir wollen zunächst eine neue Infrastruktur für Forscherinnen und Forscher aus allen Disziplinen schaffen, mit deren Hilfe sie sich noch stärker über ihre Fachgrenzen vernetzen und so gemeinsam an neuen Projekten arbeiten können“, sagt Everts. Das Ziel sei es, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler so gemeinsam Fördermittel einwerben, zu denen ihnen bisher der Zugang fehlte. Hierfür wurde ein Grobkonzept erstellt, mit welchen Themen sich das Institut befassen könnte. „Dieses ist nur als erster Aufschlag zu verstehen, für die Umsetzung sind wir auf viele helfende Hände angewiesen.“
An der MLU gibt es erste Initiativen, die sich mit dem Strukturwandel befassen: Am Zentrum für interdisziplinäre Regionalstudien laufen zum Beispiel Forschungsarbeiten zu den Folgen des Kohleausstiegs in der Lausitz und Australien. Weiterhin untersucht etwa die Forschungsstelle Kommunalentwicklung und Daseinsvorsorge (FINKO), wie Wirtschaft, Politik und Kommunen den Strukturwandel gemeinsam produktiv gestalten können. Diese Arbeiten sollen nun fokussiert und auf eine neue Ebene gehoben werden.
Die Forschungsprojekte des Instituts sollen zwar einen starken regionalen Fokus haben, dennoch soll auch ein internationaler Vergleich und Austausch angestrebt werden. „Deutschland gehört mit dem Kohleausstieg weltweit zu den Pionieren und liefert wichtige Erfahrungswerte für andere Nationen“, sagt Wirtschaftsjurist Azar Aliyev. Eine Frage, die ihn in diesem Zusammenhang beschäftigt, ist, wie Regionen mit Investitionen aus dem Ausland umgehen können. „Wie werden diese Investitionen sinnvoll reguliert, um einerseits notwendige und zukunftsweisende Investitionen anzuziehen und andererseits potenziell toxische herauszuhalten?“, fragt er. Natürlich müssten solche Themen immer an die regionalen Begebenheiten vor Ort angepasst werden. Doch auch da seien konkrete Erfahrungswerte von großer Bedeutung. Insofern werde das hallesche Institut wichtige Pionierarbeit für andere Regionen in Deutschland und der Welt leisten.
*** Das Institut befindet sich noch in seiner Gründungsphase. Im Frühjahr 2021 soll es im Rahmen einer Ringvorlesung zum Strukturwandel erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt werden.
Zur Website des Instituts: https://strukturwandel.uni-halle.de/